Ehrenfelder Abendmusiken

Die Seite rund  um die Kirchenmusik an der Versöhnungskirche

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Der französischen Romantik ist diese Ehrenfelder Abendmusik gewidmet, und doch erzählt sie auch von einem englischen Renaissancedichter, der noch 200 Jahre nach seinem Tod die Avantgarde beeinflusst. Hector Berlioz war von den romantischen Idealen in der Kunst tief bewegt. Und wie viele seiner Zeitgenossen betrachtete er die Stücke William Shakespeares als Vorbild. 1829 hatte er zum ersten Mal Shakespeares “Hamlet” gesehen und war überwältigt. Besonders von der Schauspielerin Harriet Smithson, die die Ophelia gab. Berlioz verliebte sich unsterblich, und nach zahllosen Wirren konnte er die ebenso begnadete wie schwierige Künstlerin heiraten. Die Ehe blieb eine Amour Fou aus Paranoia, Liebe und Hass, und Berlioz wandte sich der Sängerin Marie Recio zu. In dieser Zeit der Gefühlsverwirrungen lies sein Nachbar, der Poet Théophile Gaultier, Berlioz das Manuskript seines neuen Gedichtzyklus' “Les nuits d'été“ lesen. Und sofort machte sich der Komponist daran, einige Gedichte daraus für Klavier und Singstimme in Töne zu setzen. Obwohl sich „Die Sommernächte“ im Titel an Shakespeares „Sommernachtstraum“ anlehnen, beziehen sie sich nicht direkt auf das Stück, vielmehr setzen sie die poetischen Stimmungen, die die Romantik mit dem englischen Dramatiker verband, in eigene Bilder um. Und Berlioz malt die verschlüsselten Visionen von Mädchenträumen, geheimnisvollen Lagunen, einem mondbeschienenen Friedhof und rätselhaften Inseln mit der ganzen exzentrischen Imagination seiner für seine Zeit vielleicht zu modernen, zu sperrigen Phantasie. Wurden die Lieder zu ihrer Entstehungszeit vom breiten Publikum nicht verstanden, privat bescherten sie Berlioz jedenfalls Glück. Ihre Orchesterfassung widmete er Marie Recio, die er schließlich sogar heiratete.
Debussys “Zwei Arabesken” gehören zu den frühesten Werken des begnadeten Komponisten. In ihnen entwirft er zum ersten Mal seine Idee des Impressionismus in Tönen, in dem er die Methode der Avantgarde der Malerei in Klänge überführt. Dazu weitet er die Tonalität durch pentatonische Elemente und versucht, unmittelbare, emotionale Eindrücke beim Zuhörer zu erwecken.
Ernest Chausson stammt aus einer wohlhabenden Familie, was ihm ermöglichte, seine künstlerischen Interessen sehr unabhängig und offen auszuleben. Er studierte Komposition bei Jules Massenet und César Franck, war aber auch vom Werk Wagners tief beeindruckt. Sein “Poème de l'amour et de la mer” ist eine Vertonung von Gedichten Maurice Bouchors, der sich wie Gaultier von Shakespeare inspirieren ließ, sich doch deutlich weiter von seinem Vorbild entfernt und eine symbolistische Traumwelt entwirft, die ebensosehr verrätselt wie modern anmutet. Der Flieder als symbolische Pflanze durchzieht die Episoden, die von tiefer Ruhe und maximale Erregung zu endloser Trauer reichen. Chaussons Meisterschaft besteht darin, den rhapsodischen Ton zu finden, der weit entfernt von jeder Form nur dem emotionalen Ausdruck folgt, der sich tief hineinbegibt in die Bildsprache des Textes und darüber hinaus ein eigenes Gefühldrama entwickelt, das den Hörer unmittelbar fesselt und schier betäubt. Das narkotisierende Element des reinen Klanges, wohl kein Komponist hat es so virtuos gehandhabt wie Ernest Chausson.
Thomas Höft