Ehrenfelder Abendmusiken

Die Seite rund  um die Kirchenmusik an der Versöhnungskirche

Pianissimo:

Für die großen Meister der Tonkunst in der Romantik (und noch viel mehr deren Verleger) waren Bearbeitungen die beste Möglichkeit, Werke in Umlauf zu bringen. Schließlich gab es keine akustische Musikreproduktion, das musste man schon selbst in die Hand nehmen. Und seitdem das Klavier die bürgerlichen Haushalte eroberte, war das Tasteninstrument die erste Wahl, um sich Musik verfügbar zu machen. Je mehr Hände sich daran beteiligten, desto differenzierter konnte man große Orchesterwerke auch in den eigenen vier Wänden spielen. Und wenn gar ein zweites Tasteninstrument im Salon vorhanden war, konnte man beide benutzen, um die volle Skala der Partituren auszureizen. Was den Hausmusikern billig war, konnten auch die Komponisten gutheißen. Und so gab es seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts große Arrangements für zwei plus x Hände, die von klanglichem Anspruch wie pianistischer Leidenschaft zeugen. Mit der Tonaufzeichnung geriet solches Musizieren in Vergessenheit – der heutige Abend erinnert nicht ohne Wehmut daran.

Es war sicher keine historische Aufführungspraxis, was die Romantiker mit den barocken Meistern verband. Ganz den Ideen des Historismus folgend, wollten sich die Künstler des späten 19. Jahrhunderts die alten Meister in die Gegenwart zurückholen. Ein Werk wie Johann Sebastian Bachs Fantasie und Fuge g-Moll, eigentlich für die Orgel und Bachs vergebliche Bewerbung um die Kantorenstellung in Hamburgs St. Jacobi im Jahre 1720 entstanden, ist dafür ideal. Die extreme Harmonik, in der Bach ein altes niederländisches Volkslied verarbeitet, hatte schon Franz Liszt zu einer großen Klavierphantasie inspiriert. Die Bearbeitung von Händels berühmtem Orgelkonzert g-Moll ist dagegen schon fast klassizistisch zu nennen. Die herausragende Meisterleistung in der Adaption von Barockmusik erbringt aber Joseph Rheinberger, als er sich Bachs Goldbergvariationen vornimmt und für zwei Klaviere umschreibt. Der Komponist fügt ganze Stimmen dazu, verdichtet, führt ins Extrem. Max Reger, begeistert von dieser Arbeit, greift später Rheinbergers Material auf und macht daraus eine eigene, modernistisch und tief melancholisch wirkende Variante. Der Anspruch kann dabei nicht hoch genug angesetzt werden – Rheinberger und Reger hören Bach auf ganz eigene, meisterliche Art und Weise.

Während die Fassung von Schuberts Moment Musical Nr. 3 einen Exkurs in die hochqualitative Salonmusik bietet, entwickelt Maurice Ravel die barocken Vorbilder in einen strahlenden Klassizismus weiter, für den seine Pavane für eine tote Prinzessin das beste Beispiel ist. Johann Severin Svendsen ist ein norwegischer Komponist, der in Leipzig bei Carl Reinecke studierte und als Hofkapellmeister in Kopenhagen reüssierte. Seine große Polonaise ist ein effektvolles Stück großer Salonmusik, während die Bearbeitung von Robert Schumanns 1. Sinfonie für zwei Klaviere und acht Hände vom Versuch spricht, an die Grenzen des Möglichen zu gehen, um ein Meisterwerk der Sinfonie im kleineren Rahmen hörbar zu machen.

Von leichterem musikantischen Wesen war Gustav Cornelius Gurlitt, im damals dänischen Altona geboren und Freund des Komponisten Niels Gade. Seine Serenade für 2 Klaviere und 8 Hände ist das einzige Originalwerk für diese Besetzung im heutigen Programm, ein zündendes Stück Musik im Geiste des Historismus. Der Pariser Verleger und Komponist Marie-Auguste Massacrié-Durand hatte sich als Künstler wie Verleger ganz auf Bearbeitungen und Salonmusik konzentriert. In Annette et Lubin schildert er nach einer Novelle von Marmontel die unwissentlich inzestuöse Liebe zweier Blutsverwandter, die vom Papst den Segen erhält – ein geradezu rührendes Stück Gemütskitsch. Otto Nicolais Lustige Weiber von Windsor  sprechen dagegen die vitale Sprache der deutschen Komischen Oper, mit der das heutige Konzert rasant ausklingt.                                               

Thomas Höft