Musik zur Todesstunde:
1737 ist Georg Friedrich Händel schwer angeschlagen. Mit seinem
privaten Opernunternehmen ist der große Komponist in den Bankrott
geschlittert und ein Schlaganfall wirft ihn völlig um. Aber auf
einem langen Kuraufenthalt bei Aachen kann sich Händel wieder
erholen. Ganz anders ergeht es seiner Königin. Caroline, die als
Frau von King George II. in England herrscht und Händel nach Kräften
fördert, erliegt einem Unterleibsleiden. Und so nimmt es nicht
Wunder, dass der nach England zurückgekehrte Händel den Auftrag
bekommt, die Begräbnismusik für seine Königin zu schreiben. Für sein
Funeral Anthem „The ways of Zion do mourn“ stellt er
alttestamentarische Klagegesänge zu einer ergreifenden Abfolge von
Bitten um Trost im Leid zusammen, aus den Lamentationen des
Jeremias, aus den Psalmen und den Weisheiten des Salomo. Auf diese
englischen Texte komponiert er ein dichtes, chorisches Werk, ganz in
der klassischen Tradition englischer Requiemsmusik. Dennoch agiert
der Komponist auch ganz persönlich und schreibt der lutherisch
getauften, als Königin von England aber der anglikanischen Kirche
angehörenden Caroline einige Lutherchoräle in ihr Abschiedswerk.
Sogleich wird Händels Funeral Anthem über den konkreten Anlass
hinaus als „ewiges“ Meisterwerk angesehen und bleibt weiter im
Bewusstsein. Gerade Händel wird auch Jahrzehnte nach seinem Tod
immer wieder aufgeführt. Aber die barocke Verwendung von Bibeltexten
stößt bei den nachfolgenden Generationen auf Vorbehalte. Zu wenig
innig, zu wenig gefühlvoll erscheinen den Menschen die alten Worte.
Dichter wie Karl Ramler oder Friedrich Gottlieb Klopstock sind die
neuen Heroen, sie bringen die biblischen Geschichten in eine
aktuelle, persönliche Sprache. Und wenn nicht junge Musiker wie
Graun, dessen Vertonung von Ramlers „Tod Jesu“ das meistaufgeführte
Passionswerk der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist, neu
komponieren, dann arbeitet man ältere Stücke um. Es geht darum, „das
Große, Einfache, Edle“ eines Werkes wie dem Funeral Anthem von
Händel zu retten, und dessen „wahrhafte religiöse Ziele“ hinter den
zeitbedingten Bezügen wieder kenntlich zu machen. Und so macht sich
auch der Hildburghausener Hofmusikdirektor und Autor der „Leipziger
Allgemeinen Musikzeitung“, Johann Andreas Gleichmann (1775-1842),
daran, einen neuen Text auf Händels Trauerstück zu schreiben. Statt
alttestamentarischer Klage steht nun eine ganz eng als Klopstocks
Begriffswelt angelehnte, persönliche Betrachtung der „Empfindungen
am Grabe Jesu“ im Mittelpunkt. 1805 zuerst bei Breitkopf & Härtel in
Leipzig gedruckt, wird Gleichmanns Fassung zunächst gefeiert. Ganz
genau passt sie in das Bedürfnis einer Zeit, die individuell um
menschliche Werte wie Gerechtigkeit und Wahrheit ringt. Erst als in
der Romantik die Wahrheitssuche der Dichter um Klopstock hohl und
pathetisch klingt, geraten nun die Texte der Empfindsamkeit in
Verruf. Als „schmachvolle Verunstaltung“ kann Händelforscher
Friedrich Chrysander Mitte des 19. Jahrhunderts Gleichmanns Bemühen
verurteilen, aus Händels Anthem eine Passionsmusik zu destillieren.
Das neu erwachende historische Interesse an den barocken Werken
macht die empfindsame Bearbeitung endgültig obsolet, jetzt gilt es,
die Originalgestalt der Meisterwerke zu rekonstruieren, deren
aufführungspraktische Tradition inzwischen völlig verloren ist. Erst
neuerdings werden die empfindsamen Bearbeitungen ihrerseits in ihrer
historischen Bedeutung wieder ernst genommen. Das heutige Konzert
möchte dem einen raren Blick hinzufügen.
Thomas Höft