Il caro Sassone
Es ist geradezu druckfrisch, was Georg Friedrich Händel 1727 ohne
einen konkreten Auftrag zu komponieren in Angriff nimmt. Seit 1721
gibt der Hamburger Dichter Barthold Heinrich Brockes regelmäßig
seine neuen Gedichte unter dem Titel „Das irdische Vergnügen in
Gott“ in Sammelbänden heraus und hat einige darunter speziell als
Libretto gekennzeichnet. Händel wählt neun Arientexte davon aus und
setzt sie für Sopranstimme, ein hohes Melodieinstrument und Basso
Continuo in Noten. So weit, so ungewöhnlich.
1727 steckt Händel in einer Krise. Seine Royal Academy, in der er
zunächst mit großem Erfolg zahlreiche Opern aufgeführt hatte, gerät
unter Druck. Die finanziellen Probleme häufen sich – schon damals
war das Produzieren von Opern ein grundsätzlich ruinöses Unterfangen
– und Neider und Rivalen zetteln Intrigen an. Ein gewisser Johann
Christoph Pepusch komponiert eine bitterböse Satire auf Händels
Opern, die „Beggar's Opera“, obwohl sich Pepusch durchaus auf
höfische Szenen mit arkadischen Schäfern versteht, wie wir seiner
Kantate „Corydon“ unschwer entnehmen können.
Jedenfalls rücken einige der hochadeligen Freunde Händels von ihm
ab. Der Meister, der früher mit so exzellenten Virtuosen wie dem
italienischen Meistergeiger Francesco Geminiani vor der High Society
musiziert hatte, muss sich plötzlich damit abfinden, dass die
Italiener ihm wichtige öffentliche Aufträge wegschnappen; so wird
Geminiani zum Hofkapellmeister des Earl of Essex. In dieser
Situation erfindet sich Händel praktisch neu. Er gibt die höfische
Oper auf und beginnt, für das bürgerliche Publikum zu schreiben.
Zunächst aber gönnt er sich eine Auszeit und widmet sich den
persönlichen, ja intimen Texten seines alten deutschen Freundes
Brockes.
Der ist ein schreibender Aufklärer, der sprichwörtlich die Welt
verbessern will. Er stammt aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie,
ist Ratherr der Stadt Hamburg und Diplomat. Er kann sich sogar die
Anlage eines imposanten Gartens an der Elbe leisten, der ihm
dichterische Inspiration bietet. Immer wieder wird der Garten zum
Thema seiner Gedichte, die Brockes oft als Libretti schreibt, ohne
dass ein Komponist ihn dazu beauftragt hätte.
Händel vertont diese Verse wie eine Szene auf dem Theater. Und die
Arie „Meine Seele hört im Sehen“ gibt die Programmatik vor. Hier
hebt eine jubilierende Melodie an, der der Komponist insbesondere
beim Wort „jauchzet“ noch zusätzliche Triller und Schnörkel mitgibt.
Es geht dabei um ein herrliches Paradoxon. Dass die Seele im Sehen
hört, ist von geradezu genialer Synästhesie. Das Sehen ist hier
Ausdruck für das Erfassen der Welt. Wir können uns den Dichter
vorstellen, wie er an der Elbe durch seinen Garten geht und die
Blumen und Bäume betrachtet. Das „Hören“ ist die Kraft, in der die
Sprache der Natur wahrgenommen wird. Die Seele hört, also ist sie
schon verwandelt.
Solch theatralische Musik schreibt Händel auch in seinen Concerti,
Sonaten oder Suiten, die ganz ohne Gesang auskommen. Oft strahlen
sie eine ungebrochene Heiterkeit aus, die mancher nachgeborene
Kritiker Händel im völlig unpassenden Vergleich zu Johann Sebastian
Bach später als mangelnde Ernsthaftigkeit vorwarf. Tatsächlich aber
ist Händel von der positiven Kraft wie von der theatralischen
Wirksamkeit völlig durchdrungen. Dass er damit nicht alleine stand,
wird in der Sonate des flämischen Komponisten Jean Baptiste Loeillet
deutlich, der lange als Musiker am Londoner Haymarket-Theater
arbeitete.
Thomas Höft
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